Juni 2015: Drei TROUBLE FEATURES am TFM, Universität Wien


[1] BESCHLEUNIGUNG / ENTSCHLEUNIGUNG [02.06.2015]

DUEL

USA 1971, 90 Min.

R: Steven Spielberg, B: Richard Matheson, D: Dennis Weaver, Jacqueline Scott, Eddie Firestone

Im Grunde besteht „Duel“ nur aus einer knapp 90-minütigen Verfolgungsjagd – und doch gelingt es Spielberg in seinem Langfilmdebüt die DNS des Kinos bloßzulegen. Denn was ist Kino: Bewegung, Geschwindigkeit, Kinetik. So auch hier. Jemand wird verfolgt. Ein von Eheproblemen geplagter Mann in einem roten Plymouth. Von einem großen, bösen Lastwagen. Dann ist Kino aber auch: Blicke. Die Montage zergliedert sie in gerahmte Bilder, die sich überkreuzen und miteinander kollidieren. Rückspiegel, Seitenspiegel, die Anzeigen am Armaturenbrett. Und zuletzt ist Kino: Angst. Sich umdrehen. Ausweichen. Sich verstecken. Drumherum ist nur Leere. Das nackte Überleben steht auf dem Spiel. Vielleicht ist „Duel“ der puristischste Action-Film, der je gedreht wurde. Einer der wirkungsvollsten und existenzialistischsten ist er auf jeden Fall.

 

GERRY

USA 2002, 103 Min.

R, B: Gus Van Sant, B, D: Casey Affleck, Matt Damon

Ein Überlebensdrama ohne Dramatik und mit Schauspielern, die nicht wirklich spielen. Ein Film über nichts anderes als: Gehen. Nur gehen. Ziellos. In der Wüste. Durch schweigende Landschaften und im Wechsel fluider Kamerabewegungen. Soweit die Füße tragen. Bis die Körper der beiden Titelhelden mit demselben Vornamen irgendwann vor Erschöpfung zu Boden gehen. „Gerry“ ist eine Geduldsprobe mit transzendentalem Überraschungseffekt. Keine Zeichen. Kein Plot. Keine Pointen. Keine Orientierung. Kaum Dialoge. Lange Einstellungen. Irgendwann ist alles vom filmischen Bild abgeflossen. Man hat zu warten und zu hoffen aufgehört. Erhabene Leere. Sterben als endlos anmutendes Verlöschen. Ganz langsam. Ganz ruhig.


[2] SOWJETISCHE SELBSTBILDER [09.06.2015]

Predstavlenie [Revue]

Deutschland/Russland/Ukraine 2008, 88 Min.

R, B: Sergey Loznitsa

Die Sowjetunion spielt sich selbst. Ein Found-Footage-Theater aus Propagandafilmschnipseln der Fünfziger und Sechziger, gedacht als Verdichtung des utopischen Selbstbildes eines wohlmeinenden Sozialexperiments mit millionenschwerer Opferzahl. Russischer Titel: „Predstavlenie“, also: Vorstellung – im Sinne von etwas, das der Wirklichkeit vorgestellt wird, um diese zu verdecken. Doch die gefinkelte Montage dreht der Parteirede die Worte im Mund um. „Viel Glück, Kinder“, heißt es am Ende Richtung Zukunftsgeneration. Es klingt wie ein Todesurteil.

 

Gruz 200 [Cargo 200]

Russland 2007, 89 Min.

R, B: Aleksey Balabanov, D: Aleksey Serebryakov, Aleksey Poluyan, Agniya Kuznetsova u.a.

The Leningrad Chainsaw Massacre: Im sowjetischen Hinterland der Achtziger machen Menschen schlimme Sachen, weil sie die Regierung längst vergessen hat. Und einer der führenden postsowjetischen Autorenfilmer macht kurzen Prozess mit der guten alten Zeit. Ein braungrauer Höllenritt durch Industrieruinen und Provinzwüsten, begleitet von monotonem Retro-Pop, sardonisch und lakonisch wie ein böser Witz. Das ist also aus den „Revue“-Kindern geworden. Und die Zukunftsgeneration spitzt schon ihre Hauer für den kommenden Raubtierkapitalismus. Geschichte: Ein Möbiusband des Grauens.


[3] „and the birds, they don't sing, they just screech in pain“ (W. Herzog) [16.06.2015]

Le Dormeur

Frankreich 1974, 9 Min.

R: Pascal Aubier, B: Arthur Rimbaud, D: Rachid Diafi

Ein suchender Blick gleitet durch einen Wald. Die Grillen zirpen, die Vögel zwitschern ganz nah. Das schwebende Kameraauge erreicht eine Wiese, nimmt fahrt auf und lässt seinen Blick schließlich auf einem schlafenden Jungen ruhen, dessen Hand friedlich auf der halb entblößten Brust ruht. Die Intimität des Schlafes wird abgetastet, bis die Kamera auf einer Wunde, seitlich im linken Brustkorb, verweilt. Das lebendige Zirpen und und Zwitschern wird abgelöst vom Gesang der Verwesung: dem Summen einer Fliege. Das Bild färbt sich rot.

 

 

The Happening

USA/Indien 2008, 91 Min.

R, B: M. Night Shyamalan, D: Mark Wahlberg, Zooey Deschanel, John Leguizamo

Something is happening! Nur was? Die Menschen erstarren, sie rammen sich Haarnadeln in die eigenen Halsschlagadern, springen vom Dach – und all das synchron und massenhaft. Derweil rauschen die Bäume des Central Parks bedrohlich. Wie eine Welle scheint sich das Unbenennbare von der Atlantikküste her auszubreiten und führt zur Massenflucht gen Westen, aufs Land. Doch auch dort wiegen sich die Wiesen unheilschwanger im Wind, flüstern sich die Bäume ihre Todesnachrichten zu. Zooey Deschanel und Mark Wahlberg liefern sich als Krisenpaar in Krisenzeiten nicht nur einen Kampf mit dem Grauen der Natur, sondern auch im Grimassenschneiden und Augenaufreißen. Can this really be happening?

 

La Folie Almayer

Frankreich, Belgien 2011, 127 Min.

R: Chantal Akerman, B: Chantal Akerman, Joseph Conrad, D: Stanislas Merhar, Marc Barbé, Aurora Marion

Die schöne Tochter des siechenden Kolonialisten Almayer ist hingerissener von der ungebändigten Natur ihrer Heimat, als von ihrer Schulausbildung für weiße Mädchen. Genetisch begründet wird das mit ihrer Misch-Abstammung, die der Vater gern negieren würde, die sich aber in einer fatalen Liebesbeziehung zu einem Einheimischen Bahn bricht. Im leidvoll skandierten Französisch sickert Almayers Schmerz wie sein Leben aus ihm heraus. Am Ende ist er nur noch erstarrte Maske in der Zeit. Wundervoll audiovisuell orchestriert entgleiten Almayer und seine Tochter in den dunklen, nass-glänzenden Dschungel. Kunst-Kino der Meisterklasse.